Alte Meister - sanft oder grob?

Rund um die klassische Reitkunst

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ottilie
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Alte Meister - sanft oder grob?

Beitrag von ottilie »

Aus diesem Fred rührt folgende Frage her, die sicherlich eine separate Diskussion verdient:
Gawan hat geschrieben:
Steffen hat geschrieben:Gerade unsere Superhelden wie Nuno Oliveira waren zum Teil äußerst rabiat und haben Widerstände in der Ausbildung mit Methoden überwunden, die so auch nie in einem Lehrbuch stehen würden. Es ist eben in der Reiterei auch nicht alle schwarz oder weiß, das meiste ist grau.
Ist jetzt OT, aber da ich immer wieder solche Andeutungen lese, würde ich gerne wissen, ob es dazu Aussagen gibt von Leuten, die Oliveira persönlich erlebten. Was ist mit "rabiat" gemeint? Zuschlagen? Am Zügel reissen? Kannst du dazu Quellen angeben, Schilderungen konkreter Fälle?
Tanja Xezal
Es grüsst ottilie
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Medusa888
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Beitrag von Medusa888 »

Gawan hat geschrieben:
Steffen hat geschrieben:Gerade unsere Superhelden wie Nuno Oliveira waren zum Teil äußerst rabiat und haben Widerstände in der Ausbildung mit Methoden überwunden, die so auch nie in einem Lehrbuch stehen würden. Es ist eben in der Reiterei auch nicht alle schwarz oder weiß, das meiste ist grau.
Ist jetzt OT, aber da ich immer wieder solche Andeutungen lese, würde ich gerne wissen, ob es dazu Aussagen gibt von Leuten, die Oliveira persönlich erlebten. Was ist mit "rabiat" gemeint? Zuschlagen? Am Zügel reissen? Kannst du dazu Quellen angeben, Schilderungen konkreter Fälle?

Tanja Xezal
Ich glaube in diesem Band „Ratschläge eines alten Reiters an junge Reiter“ nimmt Herr Oliveira Stellung zum Umgang mit Pferden die nicht nachgeben wollen. Das Buch war eine Leihgabe, deshalb kann ich nicht zitieren, aber er gibt den Rat den Pferdehals so stark zu verbiegen, bis es laut und vernehmlich „knack“ macht. Der Autor der Buchreihe ist der Meister selber.

Auch gibt es ein eigenes Kapitel über den Gebrauch der Schlaufzügel. Soviel sei gesagt: Herr Oliveira war keineswegs ein ausschließlicher Gegner von Schlaufzügeln…..

Auch Gustav Steinbrecht widmet ein ganzes Kapitel dem Spornieren von Pferden und gibt hierbei keine zimperlichen Ratschläge.

Ich glaube also nicht, dass rein klassisch immer bedeutet, dass es immer freundlich zuging. Widerstände wurden auch damals überwunden. Vielleicht zeichnet die Klassiker aus, dass sie ihr Endziel der „Leichtigkeit“ und des „Descentes des Mains et des Jambes“ niemals aus den Augen verloren haben.
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Gawan
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Beitrag von Gawan »

Medusa888 hat geschrieben:Ich glaube in diesem Band „Ratschläge eines alten Reiters an junge Reiter“ nimmt Herr Oliveira Stellung zum Umgang mit Pferden die nicht nachgeben wollen. Das Buch war eine Leihgabe, deshalb kann ich nicht zitieren, aber er gibt den Rat den Pferdehals so stark zu verbiegen, bis es laut und vernehmlich „knack“ macht. Der Autor der Buchreihe ist der Meister selber.

Auch gibt es ein eigenes Kapitel über den Gebrauch der Schlaufzügel. Soviel sei gesagt: Herr Oliveira war keineswegs ein ausschließlicher Gegner von Schlaufzügeln…..
Hab schnell die Stellen gesucht: Das Buch enthält ein Kapitel zum Schlaufzügel, das meiner Ansicht nach völlig vernünftig klingt, etwa des Inhalt, dass sie "nicht jeden Tag systematisch" und "mit Maßen und Zartgefühl eingesetzt" bei manchen Pferden hilfreich sein können, bei anderen dagegen schädlich.

Im Kapitel zum Grad der Beizäumung wird das Knacken erwähnt:
"Ich wage fast nicht, den Reitern unserer Zeit etwas vom extremen Beizäumen zu sagen, bei dem das Pferd durch die Aktion des effet d'ensemble dazu kommt, den Unterkiefer gegen den Bug zu bringen und dabei ein charakteristisches Knacken hören zu lassen. Ich habe es häufig bei Pferden angewendet, die es nötig hatten. Das ist kein System, es ist ein Mittel, das in den Händen eines wirklichen Reiters bestimmte Probleme lösen kann."
Allerdings verstehe ich nicht ganz, wie hier der Effet d'ensemble funktioniert, nach einem anderen Kapitel im Buch scheint der über den Sporn, nicht die Hand ausgelöst zu werden. Mir bleibt auch unklar, welche Pferde er mit “die es nötig hatten” meint. Und wer kann sich schon “wirklicher Reiter” im Sinne Oliveiras nennen ...

In meinem ursprünglichen Beitrag ging es mir aber nicht um das, was Oliveira selber beschreibt (wobei mir immer wieder auffällt, wie sehr er einerseits davor warnt, eine Technik einfach systematisch anzuwenden, und andererseits das Eingehen auf das individuelle Pferd betont), sondern um die Andeutung, dass er in der Praxis eben “rabiater” war als er sich nach aussen darstellte, dass er also irgendwie getrickst hat und gegen seine eigenen theoretischen Grundsätze verstiess, kurz Wasser predigte und Wein trank. Und dazu hätte ich gerne konkrete Angaben.

Tanja Xezal
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horsman
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Beitrag von horsman »

Es dürfte kaum möglich sein, hier näher aufzuklären. Filmmaterial von O. ist rar und soweit ich es kenne zeugt es weder von Trickserei noch von rabiater Art und Weise. Man versteht nicht alles prompt und hat einige Fragezeichen und sicher hat er auch viel von seinen Pferden verlangt, aber eben auch viel von Ihnen bekommen und zwar mit Gefühl und ohne Brutalität und soweit ich die Pferdegesichter lese auch ausgesprochen willig.

Die fragwürdigen Textpassagen aus seinen Büchern wurden ja schon genannt. Die oben genannte übertriebene Beizäumung im Halten (!) ist eine Technik von Baucher 1. Manier über deren Sinn oder Unsinn man sicher streiten kann. O. relativiert sie ja selbst. Aber sicher wird es auch da Momente geben, wo man, wenn man wollte, ein unschönes Foto gemacht haben könnte.

Desweiteren sind die alten Meister, je älter sie in der Historie zurück liegen, sicher auch zuweilen recht brutal zu Werke gegangen. Dies muss man aber sicher auch in den Kontext des jeweiligen Zeitgeistes sehen, wo man in der Erziehung zu Tier und auch Mensch ganz andere Masstäbe angelegt hat, die wir heutzutage Gott sei Dank hinter uns gelassen haben.
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Max1404
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Beitrag von Max1404 »

Ich denke, man muss jedes (Lehr)Buch immer vor dem historischen Hintergrund und der Zeit sehen, in der es geschrieben wurde.

Die (guten) Klassiker raten immer wieder zum zartfühlenden Umgang mit dem Pferd. Das haben sie sicherlich bewusst so explizit getan, denn der Umgang und die Tierhaltung früherer Zeiten war alles andere als vorbildlich.

Heute sind wir in Deutschland jedoch in Sachen Umgang mit "dem Partner Tier" ganz anders besaitet, was vermutlich nicht nur dank Aufklärung, sondern auch dank eines gewissen Wohlstands entstanden ist.

Vielleicht war der Umgang der Klassiker, gemessen an heutigen Maßstäben, gar nicht so sanft, wie wir immer glauben, wenn wir die Bücher mit den Augen unserer Zeit lesen. An damaligen Maßstäben waren sie es aber ganz sicher.
Viele Grüße
Sabine
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Bernie
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Beitrag von Bernie »

Medusa888 hat geschrieben:
Ich glaube also nicht, dass rein klassisch immer bedeutet, dass es immer freundlich zuging. Widerstände wurden auch damals überwunden. Vielleicht zeichnet die Klassiker aus, dass sie ihr Endziel der „Leichtigkeit“ und des „Descentes des Mains et des Jambes“ niemals aus den Augen verloren haben.
so sehe ich es auch.
Ari44
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Beitrag von Ari44 »

Und wo ist da jetzt der Unterschied zu den heutigen "Klassikern" :wink: ?
padruga
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Beitrag von padruga »

Ich sehe es identisch wie max1404.
Hilfreich ist dabei auch zu betrachten, was in dieser Zeit auch als Liebe/Fürsorge seiner Frau oder seinen eigenen Kindern gegenüber verstanden wurde. Das ist beileibe nicht diese Empathie dem Anderen gegenüber wie es in der heutigen Zeit verstanden wird, sondern hat eine ganz andere Qualität, die uns in der heutigen Zeit doch manchmal sehr eigenartig vorkommt. In der Entwicklungsgeschichte des Menschen bzw. der Familie ist dies ja gut dokumentiert, ich denke das lässt sich auch gut auf den Umgang mit Tieren übertragen.
Auch der Grundgedanke der Legerete beruhte ursprünglich ja nicht unbedingt auf absolute Harmonie mit dem Pferd, sondern auf dem Ziel, das Pferd frei von jedem (körperlichen und geistigen) Widerstand und völlig gefügig zu machen. Durchaus auch mit dem Rat, die Widerstände beim Tier erst mal ordentlich heraus zu fordern, um sie dann zu brechen, damit das Tier wirklich vollständig gefügig und "leicht" ist. Natürlich wurde auch da mit "Liebkosungen" gearbeitet und das Pferd innig geliebt, aber beim Einsatz der Mittel/Korrekturmethoden wurde teilweise schon sehr beherzt umgegangen.
Und wo ist da jetzt der Unterschied zu den heutigen "Klassikern"
S.o. Und ich glaube schon dass man heute mehr dem Pferd versucht "zuzuhören". Ein Zungenstrecken z.B. nicht zu korrigieren versucht indem man mit Stangen auf das Maul schlägt, sondern vermehrt nach den Ursachen frägt. Zumindest versucht...
moreno
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Beitrag von moreno »

Bei diesem Beispiel kommt doch Stimung auf!

"Ein Zungenstrecken z.B. nicht zu korrigieren versucht indem man mit Stangen auf das Maul schlägt, sondern vermehrt nach den Ursachen frägt. Zumindest versucht..."

Klar doch! Heute bindet man das Maul mit einem Flaschenzug (schwedisches Reithalfter) zu.

Der Pferdesport hat wirklich dazugelernt. Bravo!

Dörr

Nein
Reiten sie ihr Pferd glücklich. (N. Oliveira)
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Beitrag von Max1404 »

Heute wissen wir - Wissenschaft sei Dank! - doch ein wenig mehr als die "Alten" über bestimmte biomechanische und andere Zusammenhänge und können daher viele Dinge in einem anderen Licht sehen.

:twisted: Übrigens reite ich auch mit schwedischem Reithalfter. :twisted:
Es kommt, wie bei allem, auf das Maß an. Auch ein schwedisches Reithalfter muss man nicht zuknallen, sondern kann es ganz locker verschnallen. :wink:

So viel zum Thema Pauschalierungen.
Viele Grüße
Sabine
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padruga
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Beitrag von padruga »

Es war nach heutigen "Klassikern" gefragt, damit meine ich Reiter wie hier im Forum, Freizeitklassiker, nicht die Turnierszene. Die würde ich spontan nicht als Klassiker bezeichnen.
Und ein Zuziehen mit einem schwedischen Reithalfter erscheint mir persönlich jetzt doch noch humaner als frühere Maßnahmen wie z.B. ein Beschneiden der Zunge.
horsman
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Beitrag von horsman »

naja, jede Zwangsmethode steht halt auch im Licht des jeweiligen Zeitgeists - letztlich ist und bleibt es aber auch eine Zwangmethode (Zunge abschneiden - Maul zuschnüren).

Ich pers. finde es erstaunlich und faszinierend, wie doch trotz allem Fortschritt und (angeblichen) wissenschaftlich neuen Erkenntnissen (die oft auch nur pseudowissenschaftliche sind), im Grunde immer noch alle Reitlehre auf die drei klass. Gedankensäulen
- de la Gueriniere (Schule der gymn. und versammeln mit Seitengängen)
- Steinbrecht (Schule vom ständigen Vorwärtsimpuls)
- Baucher (Schule von Losgelassenheit durch Gleichgewicht)

runter gebrochen werden kann.
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padruga
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Beitrag von padruga »

Weil keiner mehr selber sucht und schaut, sondern sich die Masse gern auf das von anderen "klugen Menschen" Gesagte stützt. Und da diese 3 Klassik-Vertreter halt gerade mehr im Munde sind, bezieht man sich nur auf die. Leider!!! Wo andere alte Klassikvertreter oft viel mehr zu bieten hätten!
horsman
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Beitrag von horsman »

ich habe diese drei deswegen genannt, weil sie im allgemeinen als die "Gründerväter" ihrer jeweiligen Schule genannt werden. Natürlich gibt es noch viele weitere klass. Meister, die dann auch gute Bücher verfasst haben, jedoch geht ihr Anliegen im Grund entweder auf einen oder auf das sinnvolle Zusammenbringen meherer dieser drei Säulen zurück.

Oder welche hattest du da im Sinn?
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padruga
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Beitrag von padruga »

Ach so, deshalb meintest du die 3. Die anderen "alten" Reiter beziehen sich meist auf einen dieser 3, stimmt.
Aber wir in der jetzigen Zeit müssten uns ja nicht nur auf diese 3 beschränken. Beispiele: Hünersdorf (bezieht sich allerdings auch auf Guerriniere) , er schrieb auch schon sehr viel über die Balance und deren Wichtigkeit und beschäftigte sich ausgiebig mit der Art der Aufrichtung des Pferdes. Bei Seidler wiederum kann man interessante Betrachtungen lesen über die verschiedenen Vorgehensweise bei der Ausbildung unterschiedlich gebauter Pferde, auch das ist recht interessant. Es muss nicht immer nur Guerriniere oder Steinbeck sein.
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