Altes Wissen vs. neue Erkenntnisse

Rund um die klassische Reitkunst

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grisu
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Altes Wissen vs. neue Erkenntnisse

Beitrag von grisu »

Vielleicht hat ja hier noch irgendjemand Lust auf eine Diskussion. Mir fehlt das ehrlich gesagt ein bisschen, denn Facebook mit seinen privaten Seiten und Gruppen ist dafür kein Ersatz, da entweder Fragen und Diskussionen unerwünscht sind und das Format so extrem unübersichtlich ist.

Mir geht es um die Abgrenzung von akzeptablen und inakzeptablen Vierschlag im Galopp:
Viele Reiter haben in früheren Zeiten darauf bestanden, dass in der Galopppirouette der Dreitakt erhalten bleiben muss. Seit vielen Jahren hat man sich man sich aber eingestanden (auch aufgrund von fotografischen Beweisen), dass dies gar nicht möglich ist. Eine minimale Verschiebung des Takts ist bei der extremen Versammlung unumgänglich. Allerdings nur so minimal, dass der Galopp weiter gesprungen wird - und der Vierschlag eigentlich nur auf Aufnahmen oder Slowmotion erkennbar ist.

Jetzt bin ich auf Facebook über einen Beitrag gestolpert, der darauf besteht, dass

(Zitat) "Jeder Galopp ist ein Dreitakt. Deshalb muss auch eine GALOPP Pirouette ein Dreitakt sein (...) Sollten Sie in irgendeiner Veröffentlichung lesen, dass Schulgalopp im Viertakt zu reiten ist - so ist das falsch. Denn dann ist es kein Galopp. Sie können sich davon auch in anderen ernstzunehmenden Quellen überzeugen. Es ist altes Wissen." (Zitatende) (Übrigens eine interessante Begründung "Es muss so sein, weil es so sein muss ... und die anderen sagen das auch.")

Pikanterweise befindet sich in diesem Beitrag ein Foto mit einer angeblich perfekten Galopppirouette, die aber ganz eindeutig und nicht nur minimal eine gebrochene Diagonale - also einen Viertakt - zeigt: Das innere Hinterbein fußt noch vor dem äußeren Vorderbein. Hier schlägt der Glaube ganz eindeutig die Realität. 😉

https://www.facebook.com/pg/OliveiraStables/posts/


Ich denke, dass die im Zitat erwähnten "Quellen mit dem alten Wissen" eben nicht über die heutigen technischen Möglichkeiten verfügt haben, eine Phasenverschiebung wahrzunehmen. Meine Quellen sowie eigene Anschauung sehen das anders - u.a. Waldemar Seunig, die FN-Richtlinien Bd. 2, Desmond O'Brien.
Interessanterweise schreibt jedoch Harry Boldt in "Das Dressurpferd", dass der Dreitakt in der Pirouette erhalten bleiben müsse. Doch in der dazugehörigen Bildfolge ist auch hier eine Verschiebung in den Viertakt erkennbar.

Wie seht ihr das - ist eine korrekt ausgeführte Pirouette (keine Arbeitspirouette) im Dreitakt möglich und habt ihr evtl. Videos oder Serienbilder einer solchen?
Und noch eine Frage, da Reiterei zunehmend zu einem Glaubensbekenntnis zu werden scheint: Sollte man auf dem "alten Wissen" beharren, auch wenn neue Erkenntnisse es widerlegen? Wie gehr ihr mit einem solchen "Generationenkonflikt" um?
Ulrike
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Beitrag von Ulrike »

Hui,

das sprengt eindeutig meinen Horizont. Im Moment erarbeite ich mir die ersten Galoppsprünge in der Pirouette. Da kann ich nichts zu sagen...


Aber, der Generationenkonflikt, der ist spannend. Ich seh das ja so:

Die alten Quellen sind ganz wunderbare Quellen. Ich würde IMMER zuerst auf sie zurückgreifen und ihnen glauben. Heute erfindet jeder das Rad neu, führt Erkenntnisse zusammen und verkauft sie als Wahrheit und niemand sonst hat Ahnung. Der beruft sich auf die alten Meister und erklärt sie uns.

Dazu kommen dann die, die die heutigen problematischen Pferdetypen reiten und sich dann die entstehenden Probleme schön und richtig redet und das als Wahrheit für den modernen SPortpferdetypen verkauft.
Das kleine Reiterlein, also ich, schaut sich das an, wundert sich, ärgert sich, weil es sich für blöd und dumm verkauft fühlt, redet mal mit mal nicht und reitet mit all diesen neuen und alten Grundsätzen auf dem Platz und denkt und fühlt darüber nach und kommt zu eigenen Erkenntnissen. Dann spreche ich mit meinem RL als die Quelle meiner Inspiration und zumindest meine Welt ist wieder in Ordnung.

Fazit: Ehrt die alten Meister, sie hatten eindeutig mehr Erfahrung und Gesprächsbereitschaft als die Heutigen!


LG Ulrike
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Janina
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Beitrag von Janina »

Also ich habe die entsprechenden Werke gerade nicht zur Hand, aber es gibt tatsächlich die Beschreibung des korrekten, viertaktigen Schulgalopps. Bei Guérinière? Pluvinel? Vlt kann jmd helfen.
Jedenfalls ist doch aufgrund der Slomo-Möglichkeiten, so dachte ich, heute unstrittig, dass innerer Hinter- und äußerer Vorderfuß zeitlich getrennt fußen...
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Finchen
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Beitrag von Finchen »

Ganz grundsätzlich ist für mich persönlich an beidem was "Wahres". So wie heute das Internet etc geduldig ist war es immer auch schon das Papier zur Zeit alter Meister. Die Mittel sich über größere Entfernung hinweg auszutauschen waren deutlich geringer als heutzutage, auch damals wird es Abweichungen in Bezug auf Selbst- und Fremdwahrnehmung gegeben haben, auch damals werden Reiter und Ausbilder Ziele gehabt haben, die sie vielleicht nicht immer in der angestrebten "idealen" Weise in der Ausbildung umsetzen konnten.

Zudem haben die von uns jetzt so genannten alten Meister ja auch die Ausbildung von Reitpferden revolutioniert. Die sah gewiss zur Zeit vor ihnen auch anders aus.

Immer wird es Ausbilder geben, die das vorhandene Wissen wertschätzen, aber dennoch nicht für ausgeschlossen halten, dass Veränderung auch Optimierung bedeuten kann. Nur so ist Entwicklung allgemein möglich.
Ulrike hat geschrieben:Hui,

...
Die alten Quellen sind ganz wunderbare Quellen. Ich würde IMMER zuerst auf sie zurückgreifen und ihnen glauben. Heute erfindet jeder das Rad neu, führt Erkenntnisse zusammen und verkauft sie als Wahrheit und niemand sonst hat Ahnung. Der beruft sich auf die alten Meister und erklärt sie uns.

...


Das kleine Reiterlein, also ich, schaut sich das an, wundert sich, ärgert sich, weil es sich für blöd und dumm verkauft fühlt, redet mal mit mal nicht und reitet mit all diesen neuen und alten Grundsätzen auf dem Platz und denkt und fühlt darüber nach und kommt zu eigenen Erkenntnissen. Dann spreche ich mit meinem RL als die Quelle meiner Inspiration und zumindest meine Welt ist wieder in Ordnung.

Fazit: Ehrt die alten Meister, sie hatten eindeutig mehr Erfahrung und Gesprächsbereitschaft als die Heutigen!


LG Ulrike
Da widersprichst du dir selber ein wenig finde ich. Du beschreibst wie du selber verschiedenste Informationen sammelst und für dich selber ein Ergebnis draus entwickelst, drüber nachdenkst, probierst, dich mit dem RL austauschst. Das sei aber doch jedem gestattet und nicht negativ als Versuch das Rad neu zu erfinden automatisch gewertet.

Ob du mit der pauschalen Aussage hinsichtlich Gesprächsbereitschaft richtig liegst ... bezweifel ich persönlich.
"Das Herz mit dem Verstand begreifen zu wollen, ist so ähnlich, wie mit den Ohren sehen zu wollen." Safi Nidiaye
Ulrike
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Beitrag von Ulrike »

finchen,



ich kann ja auch da nur von meinen persönlichen Erfahrungen sprechen.

Kann auch schon sein, das ich mir widerspreche, im Zusammenhang aber nicht.
Im Grunde läuft es für mich immer wieder darauf hinaus, ds ich ganz gut den alten Meistern vertrauen kann.

Aber klar, auch hier ist die Frage gestattet, WER sind die alten Meister? Auch sie haben eine Entwicklung über die Jahrhunderte durchlaufen, das ist in den Büchern ja auch dokumentiert. Einen Grisone mit seinen Kandarenbildern nehmen wir uns nicht zum Vorbild.

Die moderne Hyperflexion aber auch nicht.

Für meinen Teil komme ich mit der Wiener Reitschule und ihren Traditionen sehr gut zurecht, würde aber die moderne Art der Wiener auch nicht mehr präferieren.


LG Ulrike
Julia
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Beitrag von Julia »

Hm ganz schwierige Frage....

Ich stöbere gern in alten Büchern und nehme da auch viel mit. Genauso lese ich gerne modernes und auch da stecke viel drin.
Ich denke am Ende ist es wie mit fast allem, ich nehme hier was mit, da was mit und ich schaue gar nicht so sehr aus welcher Zeit es kommt.
Wenn es für mich im Bauch zu dem aktuellen Pferd/Situation/Problem passt und ich meine es hilft mir weiter, versuche ich es.
Es ist wohl überall viel Wahrheit drin, genauso überall vieles was nicht versucht werden braucht, da im Vorfeld klar ist dass es kein guter Weg ist.

Manches wird auch erst richtig gut wenn man altes mit neuem mischt.
Liebe Grüße, Julia
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ninischi
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Beitrag von ninischi »

Ulrike hat geschrieben: Die alten Quellen sind ganz wunderbare Quellen. Ich würde IMMER zuerst auf sie zurückgreifen und ihnen glauben. Heute erfindet jeder das Rad neu, führt Erkenntnisse zusammen und verkauft sie als Wahrheit und niemand sonst hat Ahnung. Der beruft sich auf die alten Meister und erklärt sie uns.
Ja, es gibt alte Quellen, die wunderbare Quellen sind (aber bei Weitem auch nicht alle!).
Aber heute gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse, die aus anderen technischen Möglichkeiten und fortgeschritteneren naturwissenschaftlichen Erkenntnissen stammen. Sich diesen zu verwehren und darauf zu beharren, dass "die alten Meister" Recht hatten, weil "es einfach so ist", entspricht nicht meiner Denkweise und überzeugt mich überhaupt nicht.
Die Herangehensweise, selbst als einzige Person / Methode es richtig zu machen, stört mich auch bei vielen namhaften Ausbildern heutzutage (Oliveira Stables, Krischke, Karl). Aber ob das "damals" anders gewesen ist, kann ich nicht beurteilen und würde es von daher erstmal keinesfalls als gesichert ansehen.
Mir gefallen Ausbilder, die auch anderen gute Arbeit zugestehen können, ohne sich dabei einen Zacken aus der Krone zu brechen und solche, die überzeugende Argumente für ihre Herangehensweise liefern.
"Reiten ist die Suche nach Schönheit, Geradlinigkeit und Wahrheit."
Nuno Oliveira
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Tossi
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Beitrag von Tossi »

@ ninschi
Ganz meine Meinung

Und zudem lassen die "Überlieferungen" der "alten Meister" bei der Interpretation ziemlich viel Spielraum oder wurden bereits verschiedenen Deutungen und Übersetzungen unterworfen, um sie überhaupt in heutiger Sprache lesbar zu machen. Ich jedenfalls kann die alten Orignalausgaben nicht lesen und bin selbst bei den vorliegenden (modernen) Übersetzungen mit dem Verstehen ehrlich gesagt manchmal überfordert - bzw. muss dem Übersetzer glauben, dass er den Verfasser richtig verstanden hat.
Die Schönheit der Dinge lebt in der Seele dessen, der sie betrachtet. (David Hume)
Vignir

Beitrag von Vignir »

Dem kann ich mich nur anschließen.

Wie kann man nur so stur sein, auf altem Wissen zu beharren, wenn in der Neuzeit längst bewiesen wurde, daß dem eben nicht so ist, wie man es früher annahm?!? Daß der Trab kein Zweitakt ist, sondern in der hochauflösenden Kamera sehr wohl zum feinsten Viertakt wird, ist ja auch vor Jahren nachgewiesen worden. Da kann man dem Dreitakt-Galopp in der Piroutte ja wohl ne leichte Viertaktverschiebung zugestehen -die das menschliche Auge gar nicht erfassen kann, da zu langsam!- ohne gleich so eine Diskussion anzuzetteln (nicht unsere hier, sondern die, die anscheinend im fb abgeht). Das ist einfach nur lächerlich und ewig gestrig... :roll:
grisu
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Beitrag von grisu »

ninischi hat geschrieben: ...

Mir gefallen Ausbilder, die auch anderen gute Arbeit zugestehen können, ohne sich dabei einen Zacken aus der Krone zu brechen und solche, die überzeugende Argumente für ihre Herangehensweise liefern.
Das sehe ich genauso.
😀 Denn mit dieser Kombination kommt man dann wirklich weiter, hilft sich gegenseitig und tut den Pferden etwas Gutes.
hilahola
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Beitrag von hilahola »

Ich denke die Diskrepanzen zwischen den Alten Meistern und den modernen Erkennntissen liegen darin begraben, dass (ich zumindest) völlig übersehen habe, dass sich die "Erkenntnisse" rund um die Pferdeausbildung ja ständig weiterenetwickelt haben und JEDER Autor nur seine persönliche Erfahrungen (oder die von anderen) wiedergibt und zu erklären versucht. Und zwar in der Sprache und mit dem jeweiligen Verständnis seiner Zeit

De la Guérinière hat in seinem Werk École de Cavalerie zu beschreiben versucht, wie man denn ein so ein Pferd für die "klassische Reitkunst" "richtig" ausbildet. Und jetzt denkt man sich mal in die Zeit zurück, ins 17./18. Jahrhundert.

Erstens konnten zu dieser Zeit wenige Menschen überhaupt lesen in Europa, die (allgemeine) Schulpflicht war gerade erst in ihren Anfängen. Das bedeutet, dass nur "besser" bestellt überhaupt einen Nutzen von irgendwelchem geschriebenen Zeug haben konnten. Also die Bücher der damaligen Zeit wurden überwiegend nicht für den einfachen Bauern geschrieben.

Zweitens haben zu dieser Zeit die Naturwissenschaften, die versucht haben, die Natur analytisch zu erkären, gerade Hochzeit. Überall wird herumgeforscht. Und nachdem damals das Pferd das heutige "Auto" war, war es nur logisch, dass auch die Pferdematerie analytisch erforscht wurde. Ist ja heutzutage auch so, dass die Herrn der Schöpfung herumforschen, wie man so ein Auto schneller, besser, sicherer, abgasfreier usw machen kann.

Drittens war das Pferd damals ja überwiegend ein praktisches Arbeits- und Transportmittel. Jeder Bauer wusste (mehr oder weniger gut) wie er sein Pferd dazu bringt, einen Pflug oder eine Kutsche zu ziehen. Ebenso wie er ein solches Pferd (irgendwie) dazubringt von A nach B zu laufen, ohne dass er selbst dabei runterfällt. Aber wie gesagt, ein De la Guérinière hat nicht für die einfachen Bauern sein Buch geschrieben, sondern für die Bereiter des Adels, die sich mit ReitKUNST befassten und nicht nur mit simplem Brauchbarbmachen des Pferdes für den Alltagsgebrauch.

Es wäre also - aus damaliger Sicht - völlig nutzlos gewesen, eine Gebrauchsanweisung aufzuschreiben für die "Standard-Anwendung" des Pferdes, nämlich, lenken und Bremsen und dabei nicht herunterfallen, weil der Großteil der Bevölkerung weder lesen konnte noch überhaupt einen Sinn dahinter gesehen hätte sich damit zu befassen.

Im 17/18. Jahrhundert lebte weiters der Adel noch relativ in Saus und Braus. Und so ein adeliger Mann, der will ja herzeigen was er hat - so wie die Jungs heutzutage ihr Auto oder mittels Bodybuilding ihren Körper. Und damals hat sich der adelige Herr nicht selbst im Fitnessstudio abgeplagt, sondern sich gedacht "Soll es doch das Pferd machen" Und so wurde (glaube ich zumindest) die Idee der "klassischen Reiterei" geboren. Und dann hat man eben angefangen das Pferd zu schulen in allen (un)möglichen Bewegungen. Der Zweck dahinter war immer, das Pferd schöner (muskulöser - wie die Bilder vermuten lassen) und geschmeidiger (angenehmer zu sitzen für den Reiter) zu machen.

Und wie die Jungs halt sind: Je muskulöser das Tier, desto mehr Geld geben sie für etwas aus. Und so kommt es dann, dass der Adel solche Pferdemenschen wie De la Guérinière beschäftigt hat zum Zweck des Bodybuildings für das Pferd.

Und dieser Herr De la Guérinière hat dann für die Nachwelt seine (und die von anderen) ganzen Fehler aufgeschrieben und wie er sie wieder behoben hat oder zu beheben versucht hat. Damit die Nachwelt aus seinen Fehlern lernt.

Ich kann mich noch gut erinnern, als dich das Buch École de Cavalerie zum ersten mal gelesen habe und dort vom Körperbau der Pferde die Rede war, welche Vor- und Nachteile diese oder jene „Anomalie“ zur Folge hat. Tja, und damals habe ich dann schon klammheimlich gedacht, dass mein Pferd für diese „klassische Reitkunst“ offensichtlich nicht richtig gebaut ist. Aber natürlich stand in diesem hervorragenden Buch auch drinnen, dass man durch sorgfältige Übung, die eine oder andere körperliche Unzulänglichkeit ausgleichen kann. Und das habe ich dann natürlich auch versucht und bin vom Hundertsten ins Tausendste gestolpert auf meiner „Reise“.

Tja und irgendwann habe ich für mich persönlich erkannt, dass ich als Freizeitreiter einfach nicht genug ZEIT (und entsprechend viele Pferde) zum Reiten und Üben habe, um jemals dieses Niveau und das PRAKTISCHE Geschick und Wissen eines De la Guérinière zu erreichen.

Und an diesem Punkt muss man glaub ich mal ganz ehrlich zu sich selbst sein. Wenn man weiß, dass man mit seinen verfügbaren Mitteln (Pferd und Zeit) NIEMALS dieses Niveau erreichen wird, und praktisch wirklich der „Weg“ das Ziel ist, muss man sich wirklich fragen, ob einem selbst der eingeschlagene Weg tatsächlich auch Spaß macht und vor allem auch der Natur (= dem Körperbau) seines Pferdes entspricht.

Wenn jemand wirklich das notwendige praktische Vermögen und Freude daran hat mit seinem Pferd akkurates Bodybuilding zu betreiben (was ich persönlich äußerst schwierig finde, weil man einem Pferd halt einfach nicht „befehlen“ kann, diesen oder jenen Muskel herzunehmen), dann mag die „klassische Reitkunst“ der alten Meister der richtige Weg sein. So ein Reiter wird sich vermutlich aber nicht mit „schlecht gebauten“ Pferden abgeben, weil man dann immer gegen den natürlichen Körperbau des Pferdes arbeitet. Und wenn er es trotzdem macht, dann wird er es aber nur im Rahmen der körperlichen Möglichkeiten des Pferdes tun, weil alles andere es einfach verschleißen würde.

Und genau diese Problematik, nämlich, dass es zu wenig Pferde gibt, die einen optimalen Körperbau haben und vor allem die meisten Reiter zu wenig Zeit (und Pferde-Übungsmaterial) zum „Üben“ haben, hat dazu geführt, dass die klassische Reitkunst nach und nach „ausgestorben“ ist. Mitunter auch deswegen, weil der Adel nicht mehr soviel Geld für solche „Spielereien“ hatte und die praktische Reiterei des Militärs Oberhand gewann.

Caprilli war dann der erste (oder zumindest der bekannteste) der sich im 19. Jahrhundert von den Regeln der „klassischen Reitkunst“ abgewendet hat und sich auf die reine „Gebrauchstauglichkeit“ des Pferdes (für militärische Zwecke) spezialisiert hat. Denn diese Reiterei setzte keinen speziellen Pferdetypen (sie müssen nur keine Unarten und arge körperliche Mängel haben), und auch (im Vergleich zur klassischen Reitkunst) keine außerordentlichen reiterlichen Fähigkeiten (Theorie und praktisches Geschick) voraus, sondern reine „Übung“ für Pferd und Reiter und zwar mit entsprechendem didaktischem Geschick des Lehrers.

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde diese Gebrauchs-Reiterei dann militärisch „organisiert“ und gelehrt und ist daraus die HDV12 entstanden, eine militärische Dienstanweisung, weil man versucht hat durch die Festlegung von „Standards“ eine möglichst einheitliche Ausbildung und Verwendung sicherzustellen. Der Zweck dahinter lag zu meinen natürlich in der Optimierung der Ausbildung für Pferd und Reiter und natürlich auch darin, dass möglichst wenig Pferde- und Menschenmaterial durch „unsachgemäßen Gebrauch“ verschlissen wurde. Immerhin war man sich zu dieser Zeit klar, dass die Ausbildung von Pferd und Reiter Zeit braucht und man wollte natürlich nicht durch unsachgemäßes Training seine Ressourcen für einen potentiellen Krieg gefährden.

Doch auch durch diese reine vielseitige Gebrauchsreiterei erlangten einige Pferde (und Reiter), das Geschick für die „klassischen“ versammelnden Dressurlektionen – aber halt nur in dem Rahmen, der ihr Körperbau zuließ.

Nach dem zweiten Weltkrieg hat das Auto das Pferd nach und nach verdrängt und die „zivile“ Reiterei (=Freizeitreiterei) kam langsam auf.

So. Und nun waren da nach dem Krieg noch einig frühere Offiziere, die wirklich einen Plan vom praktischen Gebrauchs-Reiten aus dieser Zeit hatten. Aber der große Nachteil war halt: Man konnte diese „zivilen“ Reitern einfach nicht gleich trainieren, wie Soldaten. Erstens hatten sie meistens viel zu wenig sonstiges körperliches Training (wie denn auch mit Büro oder Fabrik-Job), zweiten fehlten oftmals die Möglichkeiten für wirklich vielseitiges Reiten und drittens mag sich ein Freizeitreiter, der nur aus Freude, Spaß oder zur „Entspannung“ und Abwechslung reitet, nicht wie ein Soldat absoluten Gehorsam (für Kriegszwecke) vorschreiben lassen (insbesondere die Amazonen waren etwas widersetzlich).

Also schlicht: die Soldaten-Reitlehrer konnten ihr Wissen nach dem zweiten Weltkrieg einfach nicht an die zivilen Reiter weitergeben. Dadurch haben die „Reitlehrer“ an Kompetenz verloren. Es sind dann verschiedene „Reitweisen“ und Reitlehren aufgekommen, alte Sachen neu entdeckt worden, neu kombiniert, alles ist zerfleddert, jeder meint, er hat die einzig „richtige“ Methode um zu reiten, und die Kompetenz für „reiterliche Belange“ ist nach und nach zu immer mehr zu den Tierärzten, Physiotherapeuten, Osteophathen, Sattlern usw. gewandert.

Jeder dieser Sparten hat dann eigene oder mit anderen übereinstimmende wissenschaftliche Überlegungen angestellt und so wurde halt das Pferd neuerlich durchforscht in sämtlichen Bereichen. Und das gleiche hat man mit dem Reiter gemacht.

Und das einzige was bei der ganzen Forschungsarbeit in den einzelnen Teilbereichen wirklich auf der Strecke geblieben ist, ist die Beziehung zwischen dem Pferd und seinem Reiter. Das gegenseitige Verstehen.

Deshalb meine Sicht der Dinge: Alte Meister-Literatur ist genial, wenn man sie mit dem richtigen Verständnis für den Gesamtzusammenhang liest und vor allem auch ihre Zeit, ihre praktische Mittel und das Umfeld berücksichtigt. Vor allem ist sie oftmals viel praktischer geschrieben, als die Literatur heutzutage. „Forschungsergebnisse“ sind immer mit „wissenschaftlicher“ Vorsicht zu verstehen, weil eine Forschung immer nur einen TEILBEREICH analysiert. Wenn man zu viele Details erforscht, verliert man manchmal den Überblick über das Ganze. Deshalb gilt für wissenschaftliche Ergebnisse im Endeffekt genau das gleiche wie für die Alte-Meister-Literatur: Den Gesamtzusammenhang nicht aus den Augen verlieren.

Und zu dem praktischen Beispiel mit dem 4-Schlag in der Galopppirouette: Wer behauptet, dass er ein Pferd in einer Galopppirouette in einem sauberen 3-Takt halten kann, der soll es bitte einfach per Video aufzeichnen und dann online zur Verfügung stellen, dann glaube ich es erst. Das unreflektierte Wiedergeben von „Alten Meistern“ noch dazu mit absolut gegenteiligem „Beweisfoto“ dient nur dazu, noch mehr Verwirrung zu stiften als den Pferdebesitzern wirkliches Verständnis beizubringen. Aber das ist ohnehin generell Praxis in der „Pferdewelt“.

Denn ganz ehrlich: Es ist schon ein höchst akademischer Disput, ob, die Galopppirouette jetzt im 3 oder 4 Takt gesprungen wird, der einfach praktisch überhaupt nix bringt, sondern nur zusätzlich verwirrt. Derjenige, der eine Galopppirouette mit seinem Pferd reiten kann (oder sich daran versucht), wird sich wenn er oben drauf sitzt, nicht darum kümmern, was die Beine des Pferdes machen, solange er als Reiter obendrauf keine Probleme mit Sitzen und Hilfen geben hat. Und derjenige der am Boden zuschaut und nicht mindestens auch eine Galopppirouette auf genau diesem Pferd (!- weil Pferde sind durchaus unterschiedlich schwierig) reiten kann, der hat absolut keinen Grund, sich darüber Gedanken zu machen, wie das Pferd jetzt seine Beine setzt. Es bringt einem solchen Beobachter für sich selbst und sein eigenes Reiten ja ohnehin nichts, weil er einfach nicht auf diesem Niveau ist. Das ist einfach wie wenn sich ein Volkschulkind, das gerade erst lesen und schreiben gelernt hat, die Hausaufgaben des Maturanten ansieht und dabei bemängelt, dass es die „Schrift“ nicht lesen kann, weil der Maturant so eine Sauklaue hat und nicht jeder Buchstaube in sauberer Schreibschrift und deutlich vom anderen getrennt geschrieben ist.


Und abschließend noch zur mangelnden Gesprächsbereitschaft: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die meisten Reitlehrer ein Problem damit haben, entweder die Theorie wirklich verständlich zu erklären (und zwar so, dass es auch ein Nicht-Reiter versteht, ohne die ganze „Fachausdrücke“) oder geeignete Übungen für den Reiter zu finden, um ihm diese Gefühle zu vermitteln. Und das ist genau das Problem, das ich lange Zeit mit jedem Reitlehrer (Mann oder Frau) hatte. Die einen konnten mir die Theorie aus den Büchern zwar wiedergeben, aber haben es nicht geschafft mir die richtigen Gefühle zu vermitteln (oder zu viele verschiedene, die ich noch nicht alle gleichzeitig „sortieren“ konnte) oder die Diskrepanzen in den einzelnen Theorien auszuräumen. Die anderen wiederum haben mich in „Lernsituationen“ gebracht und ich hatte immer irgendwelche „Erfolgserlebnisse“, aber die Verknüpfung mit einzelnen Aspekten der Theorie hat gefehlt, sodass es auch irgendwie unbefriedigend war.

Tja und nachdem weder die eine noch die andere Sorte wirklich gut beides erklären und praktisch auch vermitteln kann, ist es klar, dass nicht so gerne „geredet“ wird, wenn man wirklich im Detail nachfragt und als Schüler etwas verstehen möchte.

Und ja, ich denke an dieser Stelle passt ein Zitat von Albert Einstein: Wenn du es nicht einfach erklären kannst, dann hast du es noch nicht gut genug verstanden!
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Beitrag von Colloid »

Aber so was von völlig OT *tschuldigung*
hilahola hat geschrieben:... Ist ja heutzutage auch so, dass die Herrn der Schöpfung herumforschen, wie man so ein Auto schneller, besser, sicherer, abgasfreier usw machen kann.
1. Es gibt bei den "Herumforschern" auch jede Menge "Damen der Schöpfung", ja selbst in der Automobilentwicklung. :roll:
und 2.:
„Forschungsergebnisse“ sind immer mit „wissenschaftlicher“ Vorsicht zu verstehen, weil eine Forschung immer nur einen TEILBEREICH analysiert. Wenn man zu viele Details erforscht, verliert man manchmal den Überblick über das Ganze.
Bitte schließe nicht von dir auf andere und vielleicht beschränkst du dich bei den wortreichen Vergleichen auf Dinge, von denen du tatsächlich Ahnung hast? :wink:

Nicht ganz so OT: Ich habe immer die Erfahrung gemacht, daß Papier seeehr geduldig ist, auch bei den Leuten, die heute Bücher schreiben. Teilweise liegen da Welten zwischen meiner Interpretation des Geschriebenen und dem was die Autoren so reiten und unterrichten. Ich denke, das wird nicht besser, wenn der Autor tot ist....auch wenn viele tote Leute ne Menge gute und bedenkenswerte Dinge über die Reiterei geschrieben haben.

Wenn jemand nicht begründen kann, warum und wofür er etwas tut, verschwende ich meine kostbare Freizeit nicht an diesen Menschen. :|
Auch hier sieht man wieder die schwindende Diskussionskultur und -Fähigkeit in unserer Zeit. Eine Diskussion ist kein Krieg, wo einer gewinnt (bzw. Recht hat), sondern ein Austausch von Argumenten und Sichtweisen, der ohne Begründung derselben absolut hinfällig wird.
Zuletzt geändert von Colloid am Mi, 24. Okt 2018 16:47, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitrag von Tossi »

@ Collo: so sehe ich es auch.
hilahola hat geschrieben:........Zitat von Albert Einstein: Wenn du es nicht einfach erklären kannst, dann hast du es noch nicht gut genug verstanden!
Entschuldigung, auch OT, aber ich würde das Zitat hier etwas abändern:

"Wenn du es nicht kürzer erklären kannst, dann hast du es noch nicht gut genug verstanden!"
Die Schönheit der Dinge lebt in der Seele dessen, der sie betrachtet. (David Hume)
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Colloid
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Beitrag von Colloid »

Immernnoch total OT :oops:
Zitat von Albert Einstein: Wenn du es nicht einfach erklären kannst, dann hast du es noch nicht gut genug verstanden!
Albert Einstein: "Glaube nicht jedes Zitat aus dem Internet, das habe ich nämlich definitiv nicht gesagt!"
:wink:
...war wahrscheinlich eher Feynman...
:wink:
Rusty072009
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Beitrag von Rusty072009 »

In vergangener Zeiten sprach man von einem weit geschulten Pferd, wenn es sich maximal weit auf die Hinterhand setzen konnte. Und wenn es das maximal am Sitz des Reiters tat, einhändig auf Kandare geführt. In moderneren Zeiten legt man andere Maßstäbe an, zB hat das Thema Schwung und Raumgriff eine Bedeutung gewonnen, die zu damals überhaupt keinen Sinn gemacht hätte. Daraus ergibt sich auch die Erklärung, ob man einen 3- oder 4-Schlag Galopp bevorzugt.

Maximal auf die HH heißt, dass die Vorderbeine so weit wie möglich entlastet werden. Je mehr die Vorhand gehoben wird, desto weniger lang bleibt sie am Boden. Maximal kommt es zur Levade, in der die Vorderbeine gar keinen Bodenkontakt mehr haben. Wenn der Galopp mehr und mehr versammelt wird kommt es - zwangsläufig- irgendwann zu der Situation, dass das äußere Vorderbein erst nach dem inneren Hinterbein auffußen KANN. das ist eine Tatsache über die es nichts zu diskutieren gibt. Die Begründung "dies wäre dann kein Galopp mehr" erscheint mir nicht schlüssig. Besonders bei sehr talentierten Pferden (versammlungsfähigen) ist diese Taktverschiebung sogar im freien Spiel zu beobachten. Im Stand bleiben auch alle 4 Beine am Boden. Und in der Schulparade oder Levade steht es nur noch auf 3/2 Beinen. Ist das deshalb kein stehen mehr? Sorry- aber so ein Quatsch!

Nun ist es aber so, dass man in der modernen Reiterei möglichst großen Rückenschwung wünscht. Der ist in so starker Versammlung natürlich geringer. Es sei denn man findet einen Kompromiss, und arbeitet beides so gut es geht zusammen heraus. Dann erhält man vielleicht eine "gut durchgesprungene" Galopppirouette im 3bis4Takt.

Was macht nun mehr Sinn FÜR DIE GESUNDERHALTUNG DES PFERDES? Dies ist die zentrale Frage die man sich stellen müsste, die aber zugunsten "Was möchte der Betrachter lieber sehen?" Völlig in Vergessenheit geraten ist.

Der eine argumentiert damit, dass die Förderung der Hankenbeugung Vorrang hat, der andere sagt, ohne möglichst viel Schwung ist alles nichts.

Ich ganz persönlich denke: wer kann der kann! Dh um darüber zu diskutieren was man anstrebt, muss man es überhaupt erst mal so differenziert arbeiten können!
Ich habe lange Zeit nur mit Schwerpunkt maximale Versammlung, also 4 Schlag Galopp gearbeitet. Fühle nun aber, dass mir dabei der Rücken verloren geht, mein treibender Impuls nicht mehr gut in vorwärts aufwärts umgesetzt wird, die Nase nicht mehr leicht abwärts sucht. Nun versuche ich wieder mit etwas mehr Rückentätigkeit in einen besser gesprungenen versammelten Galopp zu kommen. Ich meine nicht, dass 4 Schlag falsch ist. Aber ich denke, dass er dieses Risiko bringt. Genauso wie ein krampfhafter 3Takt Vllt nie zur Versammlung führt. Sie Wahrheit liegt also vielleicht (wie so oft) irgendwo in der Mitte?
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