Anspruch und Wirklichkeit

Rund um die klassische Reitkunst

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grisu
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Anspruch und Wirklichkeit

Beitrag von grisu »

Es gibt ja zwischen den Ritten und Vorstellungen, die einen begeistern, und solchen, die grauslich bis tierschutzrelevant sind, ja noch eine dritte Kategorie: Das sind die, bei denen man einfach nur ratlos fragt: "Was ist das denn jetzt?"

Vorzugsweise passiert das im richtigen Leben, nachdem man sich stundenlang mit jemanden über die Reiterei unterhalten hat und man zur Überzeugung gelangt ist: "Hier spricht ein Vollprofi."
Dann sieht man die Person reiten ... und die Anforderungen des Kleinen Hufeisens werden noch nicht ganz erfüllt :shock:

Deshalb dieser neue Thread.
grisu
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Beitrag von grisu »

Okay und gleich ein Beispiel:

Das Video der Sonntagsarbeit (gepostet 24. Mai 2016) unter

https://www.facebook.com/OliveiraStables/

macht mich ratlos.

Das Folgende ist einfach meine ganz persönliche (und selbstverständlich völlig unmaßgebliche) Meinung:

Nachdem dieser Betrieb von der Betreiberin in ihrer Zeitschrift Piaffe und auf der website des Stalls als einziger Ort in Deutschland (Europa, der Welt, dem Universum?) gefeiert wird, an dem pferdegerecht geritten wird, freut man sich auf einen Genuss.

Und dann? Mal abgesehen von der katastrophalen Qualität des Filmmaterials sieht das teilweise so aus wie der Tag der offenen Tür des ländlichen Reitvereins um die Ecke. Mal abgesehen vom Meister selbst ist da wenig Überzeugendes dabei.

Das einzige Warmblut lässt erkennen, dass nicht nur Philippe Karl mit seiner Methode hochblütige schwarze Hannoveraner kleinkriegt, sondern man diesen Pferdetyp auch durch konsequente Stierkampfreiterei ganz prima den Rücken und die Gänge wegreiten kann … Hier könnte man doch mal reitweisenübergreifendes Pas de deux vorführen (wenn man nicht überzeugt wäre, dass nur die eigene Methode ins reiterliche Paradies führt).

Am End brauchen verschiedene Pferdetypen doch unterschiedliche Herangehensweisen - so ganz undogmatisch und nach den Bedürfnissen und den Exterieurbedingungen des Pferdes? Vielleicht brauchen hochblütige Warmblüter doch zwischendurch mal Arbeit in der Dehnungshaltung, selbst wenns nicht ins feste Weltbild passt?

Der kleine Falbe (an dritter Stelle in der Schrittrunde am Anfang) zeigt im Schritt so auffällige Taktprobleme der HH, dass man nur hoffen kann, dass dies nur an der Reiterei liegt.

Die drei letzten Pferd … ja was soll man das sagen …

Bei der Quadrille ist die Qualität der Reiterei zum größten Teil proportional zur Qualität der Filmaufnahme … Das hat tatsächlich ein bisschen „Weihnachtsquadrillen-Feeling im RuF Unterwiesendodelbach“.

Weitere (äußerst subjektive) Erkenntnisse abseits von der gezeigten Reiterei:

- Die Professionalität des Filmmaterials ist genauso schlecht wie das Lektorat der im Verlag der Stallbetreiberin erschienenen Bücher.

- Phantasie-Uniformjacken sehen irgendwie immer ein bisschen lächerlich aus -Tradition lässt sich auch so nicht vortäuschen.

- Über Reiterei kann man bekanntlich streiten - aber ein Kurs „Wie schminke ich mich so, dass ich nicht aussehe, als wäre ich in den Farbtopf gefallen“ könnte nicht schaden (ok, das war jetzt einfach nur gelästert ;))
Puppa99
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Beitrag von Puppa99 »

grisu hat geschrieben: Nachdem dieser Betrieb von der Betreiberin in ihrer Zeitschrift Piaffe und auf der website des Stalls als einziger Ort in Deutschland (Europa, der Welt, dem Universum?) gefeiert wird, an dem pferdegerecht geritten wird, freut man sich auf einen Genuss.
:lol: Das ist wohl schon mehreren Leuten aufgefallen. :wink: Die Zeitschrift könnte man mittlerweile echt umbenennen, damit der Käufer von vornherein weiß, was ihn vom Inhalt her erwartet.

Zu dem Video: super viel erkennen kann man ja nicht. Viele der Pferde erscheinen einfach angesichts so vieler Zuschauer etwas gestresst und nervös und wollen am liebsten weg. Das ergibt natürlich kein schönes Reiten. Vielleicht wird das mit der Zeit besser, aber man fragt sich dann schon, ob das vorher vernünftig geübt wurde oder nicht.

Ich weiß aber, was Du meinst. Gerade bei viel beworbenen oder von Zeitschriften hochgejubelten Pferdemenschen erwartet man dann auch, dass man was tolles zu sehen kriegt. Doch im Endeffekt kochen doch alle nur mit Wasser. Bei Oliveira scheint dieses Abteilungsreiten hinter dem "Meister" her täglich praktiziert zu werden, was sich mir aber nicht ganz erschließt, denn er kann aus dieser Position ja gar keine Korrekturen an den Schülern vornehmen. Jeder versucht dann halt, mehr schlecht als recht hinterher zu kommen und dabei die gleichen Lektionen wie der Vorreiter auszuführen. Erinnert mich an meine eigene Reitschulzeit...

Viel interessanter hätte ich gefunden, Oliveira selbst bei der Arbeit mit Ausbildungspferden zu sehen, aber das gibt das Video leider nicht her.

Das Problem liegt wohl teilweise auch in unseren übersteigerten Vorstellungen - und daran, dass es vielen Leuten so geht wie mir: in der Theorie weiß man genau, wie es geht, aber die Umsetzung lässt zu wünschen übrig. :wink:
Rapunzel
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Beitrag von Rapunzel »

Ach je.

Das erinnert mich schwer an Anja Beran. Da dachte ich auch wunder was für tolles Reiten mich erwartet und hatte dann nur viele große Fragezeichen über dem Kopf. Geschmeidiger Sitz, saubere Zügelführung, korrektes Reiten, Rückentätigkeit - Pustekuchen.

Übersteigerte Erwartungen, ich weiß nicht - man kreiert natürlich selbst eine gewisse Erwartungshaltung, wenn derjenige in seinem Internetauftritt schon stark sektenartig vorgestellt wird "(Der Meister!" hohoooo!) und viel von Reit"kunst" usw. die Rede ist. Da sollte man dann halt auch Entsprechendes abliefern können - leider scheint das aber tatsächlich antiproportional zu laufen: Je protziger der Auftritt und je mehr alle anderen Ausbildungswege schlechtgemacht werden, desto bescheidener die eigene Leistung.

Doppelt schade ist, dass Eva Steinbach eine richtig gute Reiterin/Ausbilderin ist (oder war?). u.a. Trägerin der Stensbeck-Plakette. Ich kenne sie von "vorher" und hab mich damals schon arg gewundert, als sie dort hingegangen ist.
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Spielnase
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Beitrag von Spielnase »

Ohoooo, ne das gefällt mir jetzt auch nicht so. Die Pferde wirken sehr unruhig und zappelig und Taktfehler sehe ich auch. Vor ein paar Jahren war ich mal als Zuschauerin bei einem Seminar von Oliviera und hatte mir auch viel schöne, sanfte und pferdefreundliche Reiterei erhofft. Leider wurde ich vom Gegenteil überrascht :?
Den Unterricht eines Paares fand ich so schlimm, dass ich die Halle verlassen habe. Das Pferd hat sich so unwohl und gestresst gefühlt, dass es schon Richtung Hallentor losgestürmt war (mit hilfloser Reiterin obendrauf).

Aber Hauptsache ist doch, dass man einen schönen Porzellan-Teller bestellen kann
http://www.wu-wei-verlag.com/system.php ... ge&page=72 :shock:
Julia
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Beitrag von Julia »

Spielnase hat geschrieben: Aber Hauptsache ist doch, dass man einen schönen Porzellan-Teller bestellen kann
http://www.wu-wei-verlag.com/system.php ... ge&page=72 :shock:
*pruuuuuust* :lol: :lol: :lol:

Es ist halt wie so oft im Leben. Immerhin ist die Tribüne voll, es gibt denke ich genug die genau das gut finden. Und genauso viele die es eben nicht mögen. (Ich auch!)

Die Gefahr besteht glaube ich oft dass man sich in Lob und Ruhm weidet und vergisst zu schauen was man tut. Und wie so oft sind auch dort alle unter ihresgleichen. Keiner hinterfragt, kritisiert o.ä.

Zu dem Rest (Selbsteinschätzung) sage ich mal nur...wenn ich könnte wie ich wollte... :wink: Ich weiss von mir selber dass ich mehr sehe als ich selber umsetzen kann. Aber auch das geht wohl vielen so...
Liebe Grüße, Julia
Puppa99
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Beitrag von Puppa99 »

Das traurige ist halt immer, wenn man von einem Ausbilder tolle Texte liest (auch von Oliveira) und dann denkt: ja, super, so jemanden möchte ich als Ausbilder haben (oder demjenigen mal zusehen, von ihm lernen usw.) - und dann sieht man die Person im realen Leben und ist einfach nur enttäuscht, wenn eben nicht so gearbeitet wird, wie in Artikeln oder Büchern beschrieben.

Ich meine, es muss klar sein, dass jeder mal Fehler macht oder es auch nicht gut klappt. Aber wenn ein Ausbilder nicht erkennt, wie gestresst ein Pferd ist - wie von Spielnase beschrieben - dann ist das schon schockierend.

Wenn ein Showauftritt oder eine Vorführung nicht so recht klappen will, ist mir immer wichtig, wie die Akteure damit umgehen. Letztes Jahr bei der Cavallo Academy in Wickrath war Kenzy Dysli da, unter anderem auch mit einem jungen Pferd. Sie hat eine Vorführung mit mehreren Pferden gleichzeitig gemacht, eins lief frei und auf einem saß sie drauf. Das freilaufende Pferd war das Jungpferd, meine ich. Dieses sollte sich hinlegen und das von ihr gerittene Pferd sollte sich von der Seite her über das liegende Pferd stellen. Abgesehen davon, dass ich diese Nummer allgemein nicht mag, weil ich noch nie gesehen habe, dass das liegende Pferd sich nicht total unwohl fühlte, konnten wir Zuschauer sehen, dass immer wieder die Gefahr bestand, dass das eine Pferd dem anderen gleich aufs Bein tritt.
Das liegende Pferd stand also wiederholt auf, auch weil es die ganze Situation beunruhigend fand. Frau Dysli bestand aber auf der Durchführung und legte das Pferd immer wieder ab. Dies tat sie mit großer Ruhe, doch ich frage mich, ob sowas wirklich sein muss oder ob man dann nicht lieber abbrechen sollte - oder nur nochmal ablegen, aber nicht drüberreiten.
Im Gegensatz dazu waren wir bei der ersten Vorführung der Hofreitschule Bückeburg in diesem Jahr, und da dort die Vorführungen immer wieder mal geändert wurden, war einiges neues dabei, und nicht alles klappte so. Man nahm es mit Humor, setzte neu an und lobte dann die Pferde. Der pferdeunerfahrene Zuschauer hat wohl gar nichts bemerkt, und für die anderen gab es hinterher noch die Erklärung, dass dies eben die erste Vorstellung des Jahres gewesen sei und dabei immer was schieflaufe. Das gefällt mir persönlich wesentlich besser.
minou
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Beitrag von minou »

Eine Freundin hat dort vor Kurzem ein Praktikum gemacht und war entsetzt. Grad beim großen Meister himself waren die Pferde sehr gestresst.
Ich hab mich mal mit Frau Sonntag unterhalten und ihr auch gesagt, dass mir die neuen Ausgaben der "Piaffe" nicht mehr gefallen, weil sie halt nur noch Werbung für Oliveira und ihren Stall sind. Da hat sie gemeint, dass sie nicht verstehen kann, das so viele Reiter ihr Geld für Unterricht bei anderen Ausbildern ausgeben als für Oliveira. Sie hat in vielen Jahren Hunderte gesehen und kennengelernt, aber an O. kommt keiner hin.
Ganz davon abgesehen, ob er gut ist oder nicht....ich könnte ihn mir nicht leisten bei ca. 165€ pro Reitstunde.
******
Indem uns das Pferd sein Vertrauen schenkt, fordert es uns zu einer disziplinierten Reitweise auf. Charles de Kunffy
CurlyMangas
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Beitrag von CurlyMangas »

Das habe ich in Bückeburg auch erlebt. Eine Freiheitsdressur klappt so gar nicht. Das Pferd tobte sich in der Halle aus und Frau Krischke konnte seine Aufmerksamkeit nicht auf sich lenken. Sie versuchte zwischen durch immer wieder ihn zu sich zu holen. An diesem Tag hat es nicht geklappt und so blieb es dabei. Ich fand das auch sehr sympathisch!
Klassikfjord
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Beitrag von Klassikfjord »

Abgesehen davon, dass die Videoqualität - wie schon bemerkt - grottig ist, frage ich mich bei solchen "durchschnittlichen" reiterlichen Leistungen immer nach der Bewertung desjenigen, der sie anpreist (bzw. online stellt).

Dass Pferde vor Publikum oder in ungewohnter Umgebung angespannt sind, und dann bei Weitem nicht zu ihren "eigentlichen" Leistungen im Stande sind - kein Thema!
Dass die gleichen Pferde, die in dem Video gestresst aussehen, unter anderen Umständen vermutlich wunderbar locker über den Rücken zu reiten sind - glaube ich sogar.

Aber WIESO stellt man dann sowas Suboptimales als Werbung für sich bzw. seine Lehre ein? Kapier ich nicht.
Ponyreiter aus Überzeugung
Puppa99
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Beitrag von Puppa99 »

Klassikfjord hat geschrieben:Aber WIESO stellt man dann sowas Suboptimales als Werbung für sich bzw. seine Lehre ein?
DAS habe ich mich auch schon oft gefragt. Kommt mir manchmal vor, als hätten die Leute kein anderes Bildmaterial. Nach dem Motto: das haben wir jetzt extra gefilmt, also wird es auch eingestellt. Hätten man jetzt nur die Fotos auf Facebook veröffentlicht, wäre der Eindruck wahrscheinlich positiver gewesen (bei guter Fotoauswahl).

Hach ja, Frau Sonntag scheint allgemein in einer etwas anderen Welt zu leben. Ist ja schön, wenn sie sich ihren Traum verwirklichen will und die Mittel dazu hat - aber auch ein Herr Oliveira kann nicht alle Reiter der Welt ausbilden. Da bleibe ich lieber bei meiner Trainerin, die das nebenberuflich abends und am Wochenende macht und uns trotzdem kontinuierlich weiterbringt.

Grundsätzlich finde ich so eine Beweihräucherung befremdlich, dieses In-den-Himmel-heben von Reitern und Ausbildern. Das kann genauso anziehend wie abstoßend wirken.
Zuletzt geändert von Puppa99 am Do, 02. Jun 2016 14:12, insgesamt 1-mal geändert.
Rapunzel
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Beitrag von Rapunzel »

Also, wenn man die Website so anschaut, die Frau S. da für den Herrn kreiert hat, drängt sich einem schon der Verdacht auf, dass da noch was ganz anderes läuft ;-)
Puppa99
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Beitrag von Puppa99 »

Rapunzel, Du siehst das falsch, das ist alles die Verehrung eines Reitergotts! Du betreibst also gerade Gotteslästerung! :wink: :wink:
esge
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Beitrag von esge »

Vermarktung ist alles...

Oliveira auf deutsche Freizeitreiter loszulassen ist in etwa wie Einstein vor eine Klasse voller Schantalle-Schackeline-du-darfst-doch-den-Benjamin-Robin-Kevin-nicht-hauen-Kinder zu stellen.
Loslassen hilft
grisu
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Beitrag von grisu »

mmh, vielleicht reitet er ja deswegen vorne weg ... Dann muss er sich es nicht anschauen 8)

Ich glaub Einstein würde sich das nicht geben oder vielleicht mit den Kindern Ball spielen ...

Aber du sagst es ja im ersten Satz - da geht's wahrscheinlich um Vermarktung. Dann drückt man den Gläubigen noch den Nachwuchs aus dem eigenen Gestüt auf - den man für sie ausbildet und dann über die Haltbarkeitsdauer immer wieder korrigiert. und schon hat man einen wunderbar geschlossenen wirtschaftlichen Kreislauf :)
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