Schwung

Rund um die klassische Reitkunst

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Juniperus
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Schwung

Beitrag von Juniperus »

Hallo, ich bin hier (leider zeitlich bedingt) meist nur stiller Mitleser, aber weil ich das meist schon sehr hilf- und lehrreich finde, möchte ich gern eine Frage stellen.

Btw. ich habe versucht, per Suchfunktion zu schauen, ob es so einen Thread schon gibt, aber scheinbar kann man nicht ausschließlich in den Titeln suchen und das Wort "Schwung" taucht nahezu überall auf.. oder ich bin zu doof für die Suche - was nicht auszuschließen ist. :lol: Dann bitte einfach die Frage löschen...

Ich bin ein bischen verwirrt in Bezug auf das Wort "Schwung". Jedenfalls bekomme ich mittlerweile den Eindruck, dass das Wort je nach Reitweise oder eigenem Verständnis völlig andere Bedeutung haben kann...und es dann bei Diskussionen manchmal hoch hergeht - aber eigentlich von unterschiedlichen Dingen gesprochen wird.

Mal heißt ist Schritt keine schwungvolle Gangart, mal ist sie es schon.
Mal ist Rückenschwung (auf und ab oder hin und her, dann ist auch Schritt dabei) gemeint, mal der physikalische Begriff (kinetische Energie entlang einer linearen Linie - demnach hat Schritt Schwung), mal das energische Abfussen des Hinterbeins ex- oder inklusive Schwebephase (dann zählt Schritt ohne Schwebephase nicht dazu) usw...

Ich möchte das nicht bewerten oder so, mir geht es eher um eine Aufstellung "Für wen bedeutet Schwung was"? Oder gibt es nur die Eine Definition und wenn ja, warum?

Edit: Vielleicht mal ein paar Beispiele, warum es mich verwirrt:

http://www.cavallo.de/know-how/schwung- ... 233219.htm

„Schwung heißt, das Pferd in dem Rahmen zu haben, den Sie haben wollen, und dass es in jedem Augenblick dieselbe Energie zeigt, in der Haltung, die Sie wollen, ohne Unterstützung durch Hilfen, so lange wie möglich. Schwung ist nicht, was viele Menschen glauben und predigen. Das Pferd in die Anlehnung treiben, und das Pferd wird rund, dynamisch, und das ist alles? Ein Zeichen von Schwung ist ein ruhiger Kopf. Spektakuläre Bewegung und Zwang - der Unverständige sagt, dass das Pferd vorwärts geht. Ein Pferd, das Schwung hat und seine Hinterhand engagiert, findet die Anlehnung selbst. Sie verlieren den Schwung, weil sich Ihr Körper mehr bewegt als der des Pferdes.“ (Entnommen aus dem Buch: „Zu Hause bei Nuno Oliveira - Momente und Ansichten aus dem täglichen Training“ von Eleanor Russel, Olms Verlag 2007)


Akademisch:
Schwung bedeutet hier, dass das Pferd mit dem jeweiligen Hinterbein nach vorne greift, statt nach hinten hinaus und damit gegen die Hand zu schieben. Schwung sollte ein Pferd also in jeder Gangart (vor allem im Schritt!) entwickeln, um gesund bis zu den Lektionen gefördert werden zu können, die ihm aufgrund seiner individuellen Konstitution möglich sind.
Quelle: http://www.akademisch-reiten.de/ausbildungskonzept.html

und auch die Definition nach FN ist mir geläufig, aber eben wieder etwas anders - oder nicht?
esge
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Beitrag von esge »

Hallo,

zum einen gibt es natürlich die Definition der dt. reiterlichen Vereinigung, zu finden in den Richtlinien für Reiten und Fahren. (bei mir Ausgabe 1997)
"Schwung ist die Übertragung des energischen Impulses aus der Hinterhand auf die Gesamt-Vorwärtsbewegung des Pferdes. Ein Pferd geht schwungvoll, wenn es energisch abfußt und in der schwebephase mit seinen Gliedmaßen gut nach vorn durchschwingt. Ein Pferd muss losgelassen mit federnd schwingendem Rücken und einer weichen, korrekten Anlehnung gehen, um schwungvoll traben und galoppieren zu können. Schwung kennzeichnet nur den Trab und Galopp. Der Schritt weist keine Phase der freien Schwebe auf und kann daher auch nicht schwungvoll geritten werden."

Die an die frz. Auffassung angelehnten Vertreter mögen das Wort "Schwung" nicht, da man errittenen Schwung zu leicht mit angezüchtetem Gangtalent verwechseln kann. In dieser Schule wird lieber von Impulsion gesprochen. Damit ist das prompte und durchlässige Reagieren des Pferdes auf jegliche vorwärts treibende Hilfe gemeint.

Außerdem könnte man noch den schwingenden rücken aus der obigen Definition des Schwungs extrahieren. Ein Pferd kann mit dem Rücken schwingen aber (aufgrund noch zu labilen Gleichgewichts oder anderen Schwierigkeiten) noch nicht in der Lage sein, Schwung zu entwickeln. Da auch die FN den losgelassen schwingenden Rücken als Grundbedingung für Schwung nennt, halte ich diese Unterscheidung zwischen Schwingen und Schwung für ziemlich wichtig.

Umgekehrt kann man daraus schließen, dass Schwung wertlos ist, bzw. keiner ist, wenn der Rücken nicht mehr losgelassen schwingt. Da können die Beinchen vom Pferd dann noch so fliegen.

So weit von mir ein erster Versuch zum Thema. :wink:
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Rapunzel
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Beitrag von Rapunzel »

Ganz viel der Verwirrung liegt auch daran, dass es weder im Englischen noch im Französischen eine Wortentsprechung zu Schwung gibt. Das führt dann zu einer ganzen Verkettung von Fehlintepretationen. Das, was Eleanor Russell da beschreibt, ist jedenfalls nicht Schwung. Vielleicht eher das Vorwärts.

Das, was bei den Akademikern da mit "Schwung" bezeichnet wird, ist das Vorschwingen/Durchschwung der Hinterhand. Hat aber auch wieder mit dem Schwung gemäß der Richtlinien nichts zu tun.
Phanja

Beitrag von Phanja »

Ich würde gerne die akademische Beschreibung noch ergänzen. Der Vorgriff des Hinterbeines hat zur Folge, dass bei einem logelassenen Pferd eine stärkere Rotation des Brustkorbes einsetzt (wenn man von hinten auf das Pferd schaut, schwingt der Rumpf bei einem lockeren, gut nach vorne greifenden Pferd bei jedem Schritt nach jeweils rechts und links). Da das nur möglich ist, wenn das Pferd die Bewegung über den Rücken zulässt, spricht Bent hier von Rückenschwung.
Rapunzel
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Beitrag von Rapunzel »

Das ist aber immer noch eher das Durchschwingen und evtl. noch Losgelassenheit, aber nicht Schwung im definierten Sinne.
esge
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Beitrag von esge »

Kann man aber ketzerisch fragen, ob die Definition der FN die einzig Wahre sein muss.
"Schwung" ist jedenfalls was sehr deutsches. Nicht nur das Wort, sondern auch der Inhalt wurde in Deutschland geprägt, da vor allem für dt. WB-Pferde gut, sinnvoll und wichtig. ich denke mal, es kommt nicht von Ungefähr, dass es im Englischen und Französischen keine echte Wortentsprechung dafür gibt.

Dieses Rotieren lassen können des Rumpfes finde ich persönlich z.B. einen sehr wichtigen Aspekt, der in der deutschen Literatur total vernachlässigt wird. Bestenfalls wird er reduziert auf das Phänomen, dass der Reiterschenkel mit dem Pferderumpf mitpendeln, "mitatmen" soll.

Ich kenne Pferde, die einen Pseudoschwung bei brettfestem Rücken haben, die genau diese Rumpfrotation gar nicht leisten können. Schafft man es, den Rumpf in Rotationsschwingung zu versetzen, bröseln diese Pferde häufig erstmal völlig auseinander, sprich verlieren die Spur und das, was sie durch Festhalten an Gleichgewicht hatten. Trotzdem MUSS man genau hier ansetzen.
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Rapunzel
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Beitrag von Rapunzel »

Nee, muss sie natürlich nicht, aber man muss ja auch nicht diverse Räder neu erfinden bzw. wie bei den beiden Beispielen einfach den falschen Inhalt zum Begriff stecken ;-).

Und klar hängt das wieder mit tausend anderen Faktoren zusammen - ohne Gleichgewicht kein Schwung, ohne Losgelassenheit schon gar nicht. Und so weiter.
esge
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Beitrag von esge »

Letzteres (falscher INhalt zum Begriff) gehe ich mit dir d'accord.
Aber Rad neu erfinden ist es nicht, wenn andere Reitkulturen einfach andere Schwerpunkte setzen.
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Rapunzel
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Beitrag von Rapunzel »

Das dürfen sie ja auch gern tun, dann sollen sie das Wort Schwung einfach weglassen und gut ist´s. Sonst kommt halt Verwirrung auf. Wie hier 8)
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Cubano
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Beitrag von Cubano »

esge hat geschrieben:Kann man aber ketzerisch fragen, ob die Definition der FN die einzig Wahre sein muss.
"Schwung" ist jedenfalls was sehr deutsches. Nicht nur das Wort, sondern auch der Inhalt wurde in Deutschland geprägt, da vor allem für dt. WB-Pferde gut, sinnvoll und wichtig.
Klar,kann man. Also ketzerisch fragen. Aber auch wenn der Begriff Schwung etwas hipplogisch typisch deutsches sein mag (wobei die deutsche Reitlehre ja nun auch nicht ohne Einflüsse aus anderen reitenden Ländern entstanden ist - wir haben ja keine splendid isolation hier :wink: ). Für mich ist die zentrale Aussage von Schwung schlicht diese „ein Pferd geht schwungvoll, wenn es energisch abfußt und in der Schwebephase mit seinen Gliedmaßen gut nach vorn durchschwingt. Ein Pferd muss losgelassen mit federnd schwingendem Rücken und einer weichen, korrekten Anlehnung gehen, um schwungvoll traben und galoppieren zu können. Im Prinzip sind damit eigentlich Voraussetzungen und Zielbild schon zusammengefasst. Und da schwunglos oft genug auch hölzerne Bewegungen mit sich bringt, halte ich das Reiten ohne Schwung auch nicht gerade für gesund – vor allem für die Beine nicht.
Leider ändert das alles gar nichts daran, dass heute viele Pferde von Haus aus schon so viel GANG mitbringen, dass auf die Erarbeitung des korrekten Schwungs wenig oder gar kein Wert mehr gelegt wird. Das kommt dann tatsächlich oft zu dem von Esge beschriebenen Pseudoschwung. Aber gerade andere Pferdetypen, wie viele Iberer, profitieren in meinen Augen enorm davon, wenn man langsam und sorgfältig an der Schwungentwicklung arbeitet. Denn dazu brauchen sie wirklich den schwingenden Rücken und können nicht mehr wie die berühmte Salami auf Beinchen durch die Halle tackern. :P
„Steinbrecht ist nur schwer für den leichten Geist." (Nuno Oliveira)
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Beitrag von esge »

In der Tat kann ich dem zweiten Teil der FN-Definition auch einiges abgewinnen. :wink:
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Tess
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Beitrag von Tess »

Rapunzel hat geschrieben:Das dürfen sie ja auch gern tun, dann sollen sie das Wort Schwung einfach weglassen und gut ist´s. Sonst kommt halt Verwirrung auf. Wie hier 8)
Aber wieso denn? Wenn dem so wäre, könnte sich ja auch die FN einen anderen Begriff für "Schwung" aussuchen. Gleiches Recht für alle :lol:

Ich denke man muss "Schwung" einfach im Zusammenhang lesen/hören/interpretieren.
Setzt natürlich voraus, dass man sich mit den anderen Reitweisen auskennt.

Im Zweifelsfall würd ich einfach Nachfragen, wenn mir etwas komisch vorkommt - das schadet nie :wink:

Ich meine ... "Schwung" ist ja nicht der einzige reiterliche Begriff bei dem man trefflich aneinander vorbeidiskutieren kann.

*gggg* vielleicht sollte noch ins User-Profil aufgenommen werden, nach welcher Reitweise man unterwegs ist, um die Nutzung der Begrifflichkeiten besser einordnen zu können :lol:
Rapunzel
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Beitrag von Rapunzel »

Aber den Begriff Schwung zu verwenden, wenn man eigentlich Vorwärtsimpuls meint, ist halt irgendwie kontraproduktiv.
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Cubano
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Beitrag von Cubano »

Rapunzel hat geschrieben:Aber den Begriff Schwung zu verwenden, wenn man eigentlich Vorwärtsimpuls meint, ist halt irgendwie kontraproduktiv.
Stimmt. Auf der anderen Seite erklären sich mir nach dieser Diskussion einige Dinge durchaus besser. Zum Beispiel, dass das, was ich mit meiner deutschen Interpretation von Schwung bei den Akademikern sehe, für diese durchaus Schwung ist. Während es für mich halt komplett schwunglos ist. Von daher fand ich die unterschiedlichen Standpunkte schon ganz interessant. Wobei ich die These, Schritt sei eine schwungvolle GGA immer noch skurril finde. :P

Tess: Ich habe Deine Idee mal in meiner Sig umgesetzt :wink:
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Beitrag von esge »

Da täte ich mich aber schwer das in einen knackigen Begriff zu fassen.

"Versucht, die EdL sinnvoll mit der dt Reitlehre in EInklang zu bringen"?
"Losgelassenheit und Gleichgewicht wichtiger als BEF"?
"Versucht, seit 30 Jahren endlich Reiten zu lernen, egal wie"?

ich denke, der letzte Satz triffts am besten... :roll:
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