Michael Schäfer - "Handbuch Pferdebeurteilung"

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Josatianma
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Michael Schäfer - "Handbuch Pferdebeurteilung"

Beitrag von Josatianma »

"Handbuch Pferdebeurteilung" - Michael Schäfer
Gebundene Ausgabe: 374 Seiten
Verlag: Franck-Kosmos (2007)
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3-440-10916-8

Schon seit langer Zeit bin ich um das Buch Pferdebeurteilung von Michael Schäfer "herumgeschlichen", da es mir mit seinen 39,90 EUR zu teuer war. Nachdem ich es auf der Eurocheval als Mängelexemplar für 24,90 EUR ergattern konnte, mußte ich feststellen, daß auch der gehobene Preis von 39,90 EUR voll gerechtfertigt und gut angelegt ist:

Schäfer führt mit seinem Buch nicht nur in die Beurteilung des Pferdes in Ex- und Interieuer ein, sondern räumt auch mit vielen gefestigten Thesen auf, die auch manchen Hippologen noch erstaunen können. Außerdem findet man an vielen Stellen wichtige Hinweise und erstaunliche Feststellungen, über die sich mancher sicherlich bislang nicht im Klaren war bzw. darüber gar nicht nachgedacht hat (für mich war z. B. neu, daß Pferde nur durch die Nase, nicht aber das Maul atmen ).

Zunächst stellt Schäfer einmal fest, daß unsere heutigen Pferde nicht, wie bisher von vielen angenommen, vom "Urwildpferd" Przewalski abstammen (die Przewalskis haben 66 Chromosomen, unsere Hauspferde jedoch nur 64, so daß ein gemeinsamer Vorfahr biologisch gar nicht möglich ist). Vielmehr haben sich im Laufe der Jahrtausende aus dem einstigen Eohippo verschiedene Urtypen unserer heutigen Pferde und Ponys entwickelt: die Nordpferde Urpony und Urkaltblüter und die Südpferde mit Urwarmblütern und Urarabern. Die sich hieraus ergebenden Ableitungen hält Michael Schäfer für äußerst wichtig, um Pferde richtig beurteilen zu können.

Das Urpony, von Schäfer als Typ I bezeichnet, meint er weitestgehend in den heutigen Exmoorponys zu erkennen. Dieses in großen Gruppen vorkommende Fernwanderwild hat sich meist in verhältnismäßig kühlem Klima mit hohen Niederschlagsmengen, also etwa West- und Mitteleuropa, Klein-, Zentral- und Ostasien, aufgehalten, weshalb beispielsweise ein hoher Schnauzenteil mit umfangreichen Nasennebenhöhlen zum Vorwärmen der kalten Luft ausgebildet wurde. Ebenso hatte das Urpony ein speziell an seinen Lebensraum angepaßtes Gebiß: mit seinen beißzangenartigen Schneidezähnen konnte es eine andere Freßtechnik als Südpferde entwickeln. Ohne starkes Kopfrucken konnte es in seinem Klima hauptsächlich vorkommende hartstengelige Gräser einfach abzwicken. Auch die kleinen Teddybärohren, die nicht so leicht einfrieren können, sind ein Charakteristikum von Säugetieren aus kühlen Regionen. Ebenfalls hat sich das Langhaar des Urponys an die häufigen Niederschläge mit einer dichten Kippmähne angepaßt, da die Stehmähne, welche weitläufig als Kriterium für ein "echtes" Wildpferd angesehen wird, durch sich stauendes Regenwasser eher Hautreizungen ausgelöst hat.

Der Typ II, der Urkaltblüter, wanderte aus Nordamerika nach Eurasien ein und hatte sich noch viel mehr als das Urpony an ein Leben in kalten Zonen angepaßt. Diese Tundrenpferde kamen vor allem in extrem unwirtlichen und sumpfigen Gebieten vor. Das Klima war dennoch kontinentaler; auf einen kurzen, heißen Sommer folgte der strenge Winter ohne feuchten Herbst. Regen war selten, und trockener, leicht abzuschüttelnder Niederschlag übte keinen besonders großen Wachstumsreiz auf das Mähnenhaar aus. Die Größe dieser Urkaltblüter erklärt sich durch den physikalischen Grund, daß viele Tierarten in derart kalten und ungünstigen Klimaten zu Großformen neigen, um damit die Wärmeabgabe des Körpers zu verringern. Der Schädel war ausnahmslos auf Fressen und Aufwärmen der eiskalten Einatmungsluft ausgelegt und wies ebenso wie das Urpony ein beißzangenartiges Schneidegebiß auf, um das hartgefrorene Futter ohne schnellen Zahnverschleiß kauen zu können. Hieraus erklärt sich auch die bei vielen Kaltblütern heute noch vorkommende Ramsnase, also richtiggehende Atmenluft-Vorwärmräume. Auch die Hufe paßte der Urkaltblüter an seine Umgebung an: besonders große, weite und flache Hufe verhinderten das Einsinken im Sumpf.

In den südlichen Zonen der Alten Welt hat sich der als von Schäfer mit Typ III betitelte Urwarmblüter entwickelt. Diese in warmen, sandigen und savannenartigen Gebieten wie Asien und Südeuropa und vermutlich auch Nordafrika lebende Urform des Pferdes entwickelte sich zum Steppentier, einem echten Lauftier eben: durch das jahreszeitlich wechselnde Futterangebot mußte es weite Strecken zurücklegen. Alles war auf kraftsparende, möglichst wenig Energie verbrauchende Gänge ausgerichtet, da ein ausdauernder Gebrauch muskelarmer, sehnig-trockener Gliedmaßen mit einer für schnellen Lauf günstigen Winkelung notwendig war. Die relativ langen Ohren gewährleisteten als umfangreicher Schallauffangtrichter ein ausgezeichnetes Gehör. Die langen, schmalen Nüstern konnten bei Sand- und Staubstürmen weitgehend geschlossen werden. Anders als die Nordpferde, die als gute Futterverwerter mit ruhigem Temperament das Futter vor allem in Fett verwandelten, setzen die Steppenpferde die zugeführte Energie mehr in Bewegungs- und Wärmeenergie um. Sie sind deshalb lebhaft, reaktionsschnell, wobei jedoch für den Fettansatz weniger Reserven übrig bleiben.

Unser Uraraber, Typ IV, soll, so erstaunend es auch klingen mag, eher ein kleines, leichtes und behendes Gebirgspferd gewesen sein. Es handelte sich somit - wider unseres heute oftmaligen Gebrauchs als Distanzpferd - eher um einen Kurzstreckenläufer, dessen harte, zierliche, ovale Hufe dem täglichen Einsatz in steinigem Gelände gut widerstehen konnten. Die Kürze und Geschlossenheit des Rumpfes und ihr auf gewöhnlich nur fünf Lendenwirbeln beruhendes Quadratformat hat viele Paralellen zu manchen bergbewohnenden größeren Pflanzenfressern. Auch lassen die relativ steilen Fesseln auf diese Herkunft schließen.

Bei dieser kurzen Zusammenfassung der einzelnen Urtypen habe ich nur einige wenige Merkmale herausgegriffen und kann natürlich nicht die umfangreichen Feststellungen Schäfers wiedergeben, mit denen er seine Annahmen belegt.

Einen weiteren umfangreichen Raum stellt Schäfer der Betrachtung des Baus und der Funktionen des Pferdekörpers zur Verfügung. Über die Eigenheiten des Schädels, der Wirbelsäule, der Hinter- und Vordergliedmaßen geht es weiter zum Huf, dem Haarkleid und schließlich zu den inneren Organen:

Wir werden eingeführt in den Aufbau des Pferdehirns und dessen unproportionale Größe und Leistung im Vergleich zum menschlichen Hirn. In diesem Kapitel geht Schäfer auch auf die einzelnen Sinne ein und widmet eine ausführliche Betrachtung den Pferdeaugen und dem Gebiß, wobei er letztere durch eigene röntgenologische Prüfungen unterlegt.

Die einzelnen Ausführungen zur Wirbelsäule sind sicherlich vielen Lesern bereits bekannt, jedoch dürfen die ausführlichen Betrachtungen zu den einzelnen Gelenken und Wirbeln in diesem Buch natürlich nicht fehlen. Detailliert werden beispielsweise die Halswirbelsäule, Brustwirbel, Lendenwirbel und das Kreuzbein besprochen. Im Abschnitt über die Hintergliedmaßen erschließt sich sehr gut z. B. die Funktion der Kruppe und ihre hieraus sich ableitende Eignung des Pferdes in den verschiedenen Disziplinen.

Nach Abhandlung der inneren Organe schließt sich ein Kapitel über die Zeugung und Geburt über den körperlichen Verfall bis zum Tode an.

Ebenso widmet Schäfer den Gangarten eine eigene Sparte und geht hier auf die Besonderheiten der Statik der Pferdebeine ein, erklärt auch nicht nur die "standardmäßigen" Gänge Schritt, Trab und Galopp, sondern auch Paß und Tölt. Erklärt werden diese durch diverse Bilder, mit denen z. B. auch die Viertaktfußfolge im Renngalopp beim Englischen Vollblut veranschaulicht wird.

Schließlich wendet sich das Buch der allgemeinen praktischen Beurteilung von Pferden und Ponys zu und erklärt die im Pferdejargon häufig gehörten Begriffe wie Typ, Kaliber, Rahmen, Konstitution, Harmonie, etc. Schäfer nimmt nochmals Bezug auf die einzelnen Körperteile und ihre einzelnen baulichen Vor- und Nachteile und schließt schließlich in einer Kurzbeschreibung einzelner geläufiger Rassen.

Ich halte das Buch für eines jener Werke, die zum besseren Verständnis in keinem Bücherregal von Reitern oder Pferdehaltern fehlen sollten. Es gibt Einblick in die Herkunft unserer Vierbeiner und veranschaulicht sehr genau, wofür die einzelnen Typen herangezogen werden können und wo und warum dies herrührt. Auch für manchen Hobbyzüchter halte ich es für ein gutes Nachschlagewerk, das hoffentlich der unredlichen und unsinnigen einfachen "Vermehrung" von Equiden vorbeugt, da es auch gut veranschaulicht, was wir den Tieren durch den willkürlichen Mix verschiedener Typen aufbürden. Durch die regelmäßige Bezugnahme auf alle Equiden, also auch Esel und Halbesel, etc., rundet das Buch das Wissen über diese Tiersparte sehr gut ab.

Autor: Sylliska
Zuletzt geändert von Josatianma am Mi, 10. Sep 2008 09:01, insgesamt 1-mal geändert.
Liebe Grüße, Sabine

Ideale sind wie Sterne, man kann sie nicht erreichen, aber man kann sich an ihnen orientieren

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kallisto
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Beitrag von kallisto »

Kann dem sehr interessanten Inhalt nur zustimmen. Er geht ebenfalls sehr auf das Verhalten ein, das bestimmte Typen andere Charakterzüge aufweisen, was ich bei meinen beiden Pferdis wiederfinden konnte. Dass z.B. ein Vollblut einen größeren Individualbereich einfordern, als der kleine Haffi.

Der Inhalt wirkt auf dem ersten Blick sehr fern vom Alltag. Aber beim genaueren Lesen merkt man, wie sehr diese eher ursprünglich beschriebenen Merkmale in einer modernen Pferdehaltung immer noch aktuell sind. Es wird z.B. begründet, warum der Urarabertyp doch eher schwerfuttrig scheint. Viele, viele interessante Dinge, die auf dem zweiten Blick höchstinteressant und aktuell sind. Er geht dabei sehr in die Tiefe und begründet sehr bildhaft.

LG Susi
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-Tanja-
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Beitrag von -Tanja- »

kallisto hat geschrieben:Der Inhalt wirkt auf dem ersten Blick sehr fern vom Alltag. Aber beim genaueren Lesen merkt man, wie sehr diese eher ursprünglich beschriebenen Merkmale in einer modernen Pferdehaltung immer noch aktuell sind. Es wird z.B. begründet, warum der Urarabertyp doch eher schwerfuttrig scheint. Viele, viele interessante Dinge, die auf dem zweiten Blick höchstinteressant und aktuell sind. Er geht dabei sehr in die Tiefe und begründet sehr bildhaft.
Jepp!
lg, Tanja

Reiten ist nicht weiter schwierig, solange man nichts davon versteht.
Aus: "Vollendete Reitkunst", Dr. Udo Bürger, 1959
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greta j.
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Beitrag von greta j. »

Vielen Dank für die Rezension, Tanja! Klingt ja wirklich sehr interessant. :)
"Reiten Sie Ihr Pferd glücklich." - Nuño Oliveira
grisu
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Beitrag von grisu »

Eines meiner Lieblingsbücher!
Übrigens ein Tipp für den schmaleren Geldbeutel:
Die Vorgängerauflage mit dem Titel "So werde ich Pferdekenner" gibt es ziemlich günstig antiquarisch, die ist zwar weniger schön, hat ein kleineres Format und ist weniger aktuell, stimmt aber zu etwa 95% mit dem Handbuch Pferdebeurteilung überein.
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